Von Maria Martinez
BERLIN (Reuters) – Hohe Energiekosten, eine schwache globale Nachfrage, ein disruptiver Wandel hin zu Netto-Null-Wirtschaften und die wachsende Konkurrenz aus China werfen existenzielle Fragen für das deutsche Wirtschaftsmodell auf.
CEOs und Unternehmenslobbys sagen, dass die historisch starke industrielle Basis kurz vor dem Zerfall steht, ein Risiko der „De-Industrialisierung“, das oft mit Rufen nach staatlicher Unterstützung einhergeht.
Aber wie real ist dieses Risiko? Hier sind einige Eckdaten und wie genaue Beobachter der deutschen Wirtschaft diese interpretieren.
SCHRUMPFENDE AUSGABE
Die monatlichen Daten zur Industrieproduktion geben den deutlichsten Überblick über die Entwicklung des Sektors und zeigen einen deutlichen Rückgang seit Ende 2017, der durch die COVID-19-Pandemie und jetzt den Ukraine-Krieg noch verschärft wurde.
„In Deutschland ist relativ klar, dass die Industrieproduktion niedriger bleiben wird als vor den (Energie-)Preiserhöhungen durch den Krieg in der Ukraine“, sagte Torsten Schmidt, Ökonom am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung RWI.
Unter Industrieproduktion versteht man die Produktion des verarbeitenden Gewerbes, des Energiesektors und des Baugewerbes. Der Indikator ist ein auf einen Referenzzeitraum bezogener Index und zeigt Veränderungen der Produktionsmengen an.
Obwohl dieser Indikator den aktuellsten Überblick über die Entwicklung der Industrie bietet, nutzen Ökonomen andere Messgrößen, um einen umfassenderen Überblick über den Trend zu erhalten.
Die Wertschöpfung hält an
Ein Beispiel dafür ist die Wertschöpfung der Wirtschaft durch die verarbeitende Industrie – und diese ist nur geringfügig gesunken.
„Deutschland produziert tatsächlich weniger Autos, produziert weniger andere Dinge und exportiert weniger davon“, sagte Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding. „Wenn man sich jedoch ansieht, wie viel deutsche Unternehmen damit tatsächlich verdienen, ist die Wertschöpfung pro Auto oder pro Maschine gestiegen.“
Das zeige, so Schmieding, dass die Unternehmen auf der Qualitätsskala aufsteigen. Ein weiterer Faktor besteht darin, dass die Lieferketten aufgrund der Handelsturbulenzen der letzten fünf Jahre überlastet sind und Unternehmen mehr Vorleistungen im Inland beziehen.
Mit 20 % liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Gesamtproduktion Deutschlands deutlich über dem Durchschnitt der Europäischen Union von 16 % und mit Ausnahme Japans deutlich höher als in den anderen großen Volkswirtschaften der Welt.
„Die Branchenquote ist weitgehend stabil, konstant auf einem sehr, sehr hohen Niveau“, sagte Ifo-Ökonom Timo Wollmershäuser. „In den letzten Jahren ist nichts passiert, was mich beunruhigt.“
ARBEITSPLÄTZE RÜCKGANG, ABER VON EINER HOHEN BASIS
Einige Ökonomen definieren Deindustrialisierung als einen erheblichen Verlust von Arbeitskräften im Industriesektor.
Obwohl die Daten einen langfristigen Abwärtstrend zeigen, stellt das verarbeitende Gewerbe in Deutschland immer noch 27 % der Gesamtbeschäftigung dar, verglichen mit 32 % vor 20 Jahren, wie Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation zeigen. Mit Ausnahme Italiens ist dieser Anteil nach wie vor weitaus größer als in den anderen großen Volkswirtschaften der Eurozone.
Klaus-Jürgen Gern vom Kieler Institut für Weltwirtschaft argumentierte zwar, dass der Rückgang nicht stark genug sei, um auf eine Deindustrialisierung schließen zu lassen, räumte jedoch ein, dass es sich um einen Trend handele, „bei dem die Produktion dauerhaft aus Deutschland abwandert oder abgewandert ist“.
Ifo-Mitarbeiter Wollmershäuser stellte fest, dass der Arbeitskräftemangel die Automatisierung förderte, was wiederum zu einem Rückgang der Beschäftigung führte.
„Im Grunde bedeutet das nur, dass die Beschäftigung sinken kann, die Wertschöpfung aber weiter steigen kann“, sagte er.
Politik ist eine Abschreckung
Laut einer Umfrage des Dienstleistungsunternehmens EY gingen die Zuflüsse ausländischer Direktinvestitionen nach Deutschland im vergangenen Jahr insgesamt um 12 % zurück und übertrafen damit den Rückgang der ausländischen Direktinvestitionen in ganz Europa.
Auch eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt, dass ausländische Unternehmen im Jahr 2023 nur rund 22 Milliarden Euro (24 Milliarden US-Dollar) in Deutschland investierten, der niedrigste Stand seit 10 Jahren.
„Die Politik macht es für Unternehmen alles andere als attraktiv, in Deutschland zu investieren“, sagte IW-Ökonom Christian Rusche zu den industriepolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der Koalition aus Sozialdemokraten, Öko-Grünen und Wirtschaftsliberalen unter Bundeskanzler Olaf Stolz.
Auch der Mangel an Fachkräften bremst Investitionsentscheidungen. Offizielle deutsche Schätzungen gehen davon aus, dass das Land bis 2035 sieben Millionen weniger Fachkräfte haben wird, bei einer Erwerbsbevölkerung von rund 46 Millionen.
DIE GRÖSSERE HERAUSFORDERUNG
Während die Daten einen Abwärtstrend im verarbeitenden Gewerbe auf einer viel höheren Basis als in anderen Volkswirtschaften zeigen, sind sich Ökonomen einig, dass die Bedenken hinsichtlich einer Deindustrialisierung – vorerst – überbewertet sind.
Gern vom Kieler Institut sagt, das Land folge einem für entwickelte Volkswirtschaften typischen Trend, den Anteil der Industrieproduktion an der Gesamtproduktion zu verringern.
„Wir können noch nicht von Deindustrialisierung sprechen, aber es gibt strukturelle Herausforderungen“, sagte er und verwies auf den Produktionsrückgang in energieintensiven Sektoren um 20 % im Jahr 2023.
Sowohl Wirtschaftsminister Robert Habeck als auch Finanzminister Christian Lindner erkennen an, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland vor Strukturproblemen steht, ihre Vorschläge zur Bewältigung der Probleme in der Branche sind jedoch unterschiedlich.
Während der Ökologe Habeck Subventionen zur Förderung von Investitionen in grüne Technologien vorschlägt, sagt der Wirtschaftsliberale Lindner, das Land brauche weniger Bürokratie.
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(Berichterstattung von Maria Martinez; Redaktion von Mark John und Hugh Lawson)