Ein Rätsel, das die Wissenschaftsgemeinschaft seit über 50 Jahren beschäftigt, ist endlich gelöst. Ein Team der Universität Linköping in Schweden und der Helmholtz-Gemeinschaft München hat entdeckt, dass eine bestimmte Art chemischer Reaktion erklären kann, warum organische Stoffe in Flüssen und Seen so widerstandsfähig gegen Zersetzung sind. Ihre Studie wurde in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.
„Das ist seit über 50 Jahren der heilige Gral meines Forschungsgebiets“, sagt Norbert Hertkorn, Wissenschaftler in der analytischen Chemie, früher am Helmholtz-Zentrum München und heute an der Universität Linköping.
Fangen wir von Anfang an an. Wenn sich beispielsweise ein Blatt von einem Baum löst und auf den Boden fällt, beginnt es sofort zu verrotten. Bevor das Blatt verrottet, besteht es aus ein paar tausend verschiedenen Biomolekülen; Molekülen, die in den meisten lebenden Stoffen vorkommen.
Der Zerfall des Blattes erfolgt in mehreren Phasen. Insekten und Mikroorganismen beginnen, es zu fressen, während Sonnenlicht und Feuchtigkeit auf das Blatt einwirken und zu weiterem Zerfall führen. Schließlich werden die Moleküle des zersetzten Blattes in Flüsse, Seen und Meere gespült.
Oxidative Entaromatisierung
Doch inzwischen haben sich die Tausenden bekannten Biomoleküle in Millionen sehr unterschiedlich aussehender Moleküle mit komplexen und meist unbekannten Strukturen verwandelt. Dieser dramatische chemische Umwandlungsprozess blieb ein Rätsel, das Forschern seit über einem halben Jahrhundert – bis heute – Rätsel aufgibt.
„Jetzt können wir aufklären, wie aus ein paar tausend Molekülen in lebender Materie Millionen verschiedener Moleküle entstehen können, die schnell sehr resistent gegen weiteren Abbau werden“, sagt Norbert Hertkorn.
Das Team entdeckte, dass hinter dem Rätsel eine bestimmte Art von Reaktion steckt, die als oxidative Dearomatisierung bekannt ist. Obwohl diese Reaktion seit langem untersucht und in der pharmazeutischen Synthese umfassend angewendet wird, blieb ihr natürliches Vorkommen unerforscht.
In der Studie zeigten die Forscher, dass die oxidative Dearomatisierung die dreidimensionale Struktur einiger Biomolekülkomponenten verändert, was wiederum eine Kaskade nachfolgender und differenzierter Reaktionen auslösen kann, aus denen Millionen unterschiedlicher Moleküle entstehen.
Kernspinresonanz
Bisher ging man davon aus, dass der Weg zu gelöster organischer Substanz ein langsamer Prozess mit vielen aufeinanderfolgenden Reaktionen ist. Die aktuelle Studie legt jedoch nahe, dass die Umwandlung relativ schnell erfolgt.
Das Team untersuchte gelöste organische Stoffe aus vier Zuflüssen des Amazonas und zwei Seen in Schweden. Sie verwendeten eine Technik namens Kernspinresonanz (NMR), um die Struktur von Millionen unterschiedlicher Moleküle zu analysieren. Bemerkenswerterweise blieb die grundlegende Struktur der gelösten organischen Stoffe unabhängig vom Klima unverändert.
„Der Schlüssel zu den Erkenntnissen war der unkonventionelle Einsatz der NMR, der es ermöglicht, das tiefe Innere großer gelöster organischer Moleküle zu untersuchen – und so die chemische Umgebung der Kohlenstoffatome abzubilden und zu quantifizieren“, erklärt Siyu Li, Wissenschaftler bei Helmholtz München und Hauptautor der Studie.
Selten in Biomolekülen
In Biomolekülen können Kohlenstoffatome mit vier anderen Atomen verbunden sein, am häufigsten mit Wasserstoff oder Sauerstoff. Zur Überraschung des Teams war jedoch ein sehr hoher Anteil der organischen Kohlenstoffatome nicht mit Wasserstoff, sondern hauptsächlich mit anderen Kohlenstoffatomen verbunden. Besonders faszinierend war die große Zahl von Kohlenstoffatomen, die speziell an drei andere Kohlenstoffatome und ein Sauerstoffatom gebunden waren, eine Struktur, die in Biomolekülen sehr selten ist.
Laut David Bastviken, Professor für Umweltveränderungen an der Universität Linköping, wird die organische Substanz dadurch stabil, so dass sie lange bestehen bleibt und nicht mehr schnell als Kohlendioxid oder Methan in die Atmosphäre zurückkehrt.
„Diese Entdeckung hilft, die beträchtlichen organischen Kohlenstoffsenken auf unserem Planeten zu erklären, die die Menge an Kohlendioxid in der Atmosphäre reduzieren“, sagt David Bastviken.
Die Studie erhielt wesentliche Fördermittel von der Alexander von Humboldt-Stiftung, dem schwedischen Forschungsrat, Formas und dem Europäischen Forschungsrat.
Artikel: Dearomatization drives complexity generation in freshwater organic matter, Siyu Li, Mourad Harir, David Bastviken, Philippe Schmitt-Kopplin, Michael Gonsior, Alex Enrich-Prast, Juliana Valle, Norbert Hertkorn; Nature 2024, online veröffentlicht am 25. April 2024. DOI: 10.1038/s41586-024-07210-9
Geschrieben von Anders Törneholm
Quelle: Universität Linköping
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